ADHS in der Partnerschaft – wenn einer die Diagnose hat und der andere nicht
- Dr. Mitsche
- vor 6 Tagen
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In meiner Arbeit mit Erwachsenen, die von ADHS betroffen sind, wird deutlich, wie stark diese Diagnose nicht nur das eigene Leben beeinflusst, sondern auch das Miteinander in engen Beziehungen. Besonders in Liebesbeziehungen, in denen einer der beiden Partner ADHS hat und der andere nicht, entstehen häufig spezifische Spannungsfelder. Immer wieder schildern mir Paare in solchen Konstellationen, wie schwierig es ist, sich gegenseitig wirklich zu verstehen – trotz aller Zuneigung. Fragen tauchen auf, Unsicherheiten wachsen, und nicht selten entsteht eine tiefe Erschöpfung auf beiden Seiten. ADHS betrifft eben nicht nur die betroffene Person – sondern oft auch ganz unmittelbar den Menschen, der ihr am nächsten steht.

Gerade in der Kennenlernphase kann diese Konstellation jedoch zunächst äußerst reizvoll sein: Menschen mit ADHS bringen oft eine besondere Intensität, Lebendigkeit und Spontaneität mit in die Beziehung. Ihre Fähigkeit, sich in der Anfangszeit stark zu fokussieren – auch als Hyperfokus auf eine Person bekannt – kann dazu führen, dass sie sehr aufmerksam, leidenschaftlich und emotional präsent wirken. Für viele Partner:innen ohne ADHS fühlt sich diese Anfangszeit wie ein intensives emotionales Band an. Die Beziehung wirkt lebendig, aufregend, manchmal fast magnetisch.
Mit der Zeit jedoch, wenn der Alltag einkehrt, verschiebt sich dieses Gleichgewicht oft. Der Hyperfokus lässt nach, neuropsychologische Kernsymptome wie Ablenkbarkeit, Impulsivität, emotionale Dysregulation und Schwierigkeiten mit der Alltagsstruktur treten mehr in den Vordergrund.

Was zu Beginn als quirlig und kreativ wahrgenommen wurde, kann nun als chaotisch, unzuverlässig oder konflikthaft erlebt werden. Gerade dann beginnen viele Paare, nach Erklärungen und Lösungen zu suchen – und nicht selten fällt erst in dieser Phase überhaupt der Verdacht auf ADHS.
Typische Herausforderungen – und was dahinter steckt
1. Vergesslichkeit und Schwierigkeiten, Absprachen einzuhalten
Ein häufiges Thema in gemischten Beziehungen ist die wiederholte Schwierigkeit, Absprachen verlässlich umzusetzen. Termine werden vergessen, Besorgungen nicht erledigt, Verabredungen übersehen – und das, obwohl der ADHS-Partner sich eigentlich Mühe gibt. Das kann beim nicht betroffenen Partner schnell das Gefühl erzeugen, nicht ernst genommen oder als weniger wichtig wahrgenommen zu werden.

Dabei ist es wichtig zu verstehen: Die Schwierigkeiten im Arbeitsgedächtnis und in der Handlungsplanung gehören zu den Kernsymptomen von ADHS. Es geht nicht um ein „sich nicht kümmern wollen“, sondern um eine gestörte Steuerung von Aufmerksamkeit und Priorisierung. Was von außen wie Unzuverlässigkeit aussieht, ist aus psychologischer Sicht häufig Ausdruck kognitiver Überlastung. Erst durch ein gemeinsames Verständnis dafür kann aus Vorwurf wieder Empathie werden.
2. Emotionale Impulsivität – oft die größte Herausforderung in ADHS-Beziehungen
In meiner Praxis zeigt sich immer wieder: Die emotionale Impulsivität ist eine der belastendsten Herausforderungen in Partnerschaften mit ADHS. Viele Menschen mit ADHS erleben Emotionen besonders intensiv – sowohl in der positiven als auch in der negativen Ausprägung. Sie reagieren schneller, unmittelbarer und oft auch stärker als andere – und das kann in der Dynamik einer Beziehung sehr herausfordernd sein.
In Streitgesprächen kann es dadurch zu plötzlichen, sehr heftigen Gefühlsausbrüchen kommen. Worte werden laut, Türen vielleicht auch – manchmal wird geschrien, beleidigt oder verbal abgewertet, obwohl das in ruhigen Momenten nicht der Persönlichkeit der betroffenen Person entspricht. Nicht selten folgt darauf tiefe Reue. Dennoch bleiben die Verletzungen beim Partner oder der Partnerin oft lange spürbar – emotional, manchmal sogar körperlich.

Wenn Impulsivität körperlich wird – also Dinge geworfen, Wände geschlagen oder gar der Partner bedroht oder verletzt wird – ist es wichtig, ganz klar zu sagen: Das darf nicht passieren. Auch wenn ADHS die Reizverarbeitung und Impulskontrolle beeinflusst, darf es niemals eine Rechtfertigung für Gewalt sein. In solchen Fällen braucht es sofort Schutz, klare Grenzen und professionelle Hilfe. Auch eine Trennung kann ein notwendiger und gesunder Schritt sein.
Aus therapeutischer Sicht wissen wir: Die emotionale Dysregulation bei ADHS lässt sich gut behandeln – sowohl psychotherapeutisch (z. B. mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Methoden zur Emotionsregulation) als auch medikamentös. Viele Klient:innen berichten nach einer passenden Medikation von spürbar mehr innerer Ruhe und besserer Impulskontrolle. Eine individuell abgestimmte Medikation kann hier entscheidend zur Beziehungsstabilisierung beitragen.
3. Desorganisation im Alltag und Rollenungleichgewicht
Viele Partner:innen von Menschen mit ADHS berichten, dass sie mit der Zeit immer mehr Verantwortung übernehmen, weil sonst „nichts passiert“. Das kann zu Frust, Überforderung und einem inneren Ungleichgewicht führen. Die betroffene Person selbst empfindet oft Scham oder Rückzug, was die Dynamik verstärkt.
Auch hier gilt: Die Desorganisation ist kein Zeichen von Desinteresse, sondern eine Folge kognitiver Einschränkungen bei Planung, Zeitgefühl und Prioritätensetzung. Klare Absprachen, strukturierende Hilfsmittel und eine sinnvolle Aufgabenverteilung können hier entlasten.

4. Hyperfokus und Rückzug
Ein wenig bekanntes, aber bedeutsames Phänomen bei ADHS ist der sogenannte Hyperfokus: In bestimmten Momenten kann eine Person mit ADHS über Stunden hinweg völlig in eine Tätigkeit versinken – sei es ein Projekt, ein Hobby oder ein digitales Medium. Für den Partner ohne ADHS kann das wie Rückzug oder emotionaler Abstand wirken.
Tatsächlich ist dieser Zustand neurologisch bedingt – ein intensiver Dopamin-Schub macht es schwer, den Fokus willentlich zu wechseln. Verständigung über Zeitrahmen, bewusste Planung von Paarzeit und gegenseitige Rücksichtnahme helfen, dieses Phänomen besser in den Beziehungsalltag zu integrieren.
5. Verantwortungsungleichgewicht und emotionale Erschöpfung
Wenn eine Person dauerhaft mehr Verantwortung übernimmt – organisatorisch wie emotional – entsteht langfristig eine Dysbalance. Der nicht betroffene Partner gleitet oft in eine Elternrolle, während der ADHS-Partner sich zurückzieht oder kindlich wirkt. Das kann zu chronischer Erschöpfung und innerem Rückzug führen.
Diese Muster entstehen meist unbewusst, lassen sich aber durch bewusste Rollenneuverteilung, Unterstützung von außen und klare Grenzen wieder verändern.
Was funktioniert und näher zusammenbringt
🧠 1. Verstehen, was ADHS ist
ADHS ist keine Charakterschwäche, sondern eine neurobiologische Besonderheit mit weitreichenden Folgen für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Selbststeuerung.

ADHS ist eine entwicklungsbedingte Störung der neuronalen Selbstregulation. Betroffene zeigen – unabhängig von ihrer Intelligenz oder Motivation – Einschränkungen in der Fähigkeit, ihre Aufmerksamkeit flexibel zu steuern, Impulse zu kontrollieren, Emotionen zu regulieren und Handlungen zu planen. Ein besseres Verständnis reduziert Missverständnisse, fördert Empathie und entlastet beide Partner von unrealistischen Erwartungen.
💬 2. Kommunikation – regelmäßig und ehrlich
Offene Gespräche über Bedürfnisse und Belastungen stärken die Beziehung – nicht nur im Streit, sondern besonders auch dazwischen.
Regelmäßige, achtsame Kommunikation hilft, emotionale Nähe aufrechtzuerhalten und Konflikte frühzeitig zu entschärfen. Besonders hilfreich sind strukturierte Gespräche, etwa wöchentliche Check-ins, bei denen beide ihre Perspektive teilen – auch, um präventiv Belastungen anzusprechen, bevor sie eskalieren.
📅 3. Alltag strukturieren – gemeinsam statt kontrollierend
Hilfsmittel wie gemeinsame Kalender, Listen oder Routinen helfen, Klarheit und Verlässlichkeit herzustellen – für beide Seiten.

Externe Strukturhilfen (Apps, Whiteboards, Reminder) können das schwächere Arbeitsgedächtnis bei ADHS kompensieren. Wichtig ist, dass diese Hilfsmittel nicht als Kontrollmechanismen eingesetzt werden, sondern als gemeinschaftlich gestaltete Werkzeuge – das fördert die Eigenverantwortung und entlastet beide.
🧩 4. Stärken nutzen, nicht nur Schwächen ausgleichen
ADHS bringt auch Ressourcen: Kreativität, Leidenschaft, Empathie. Eine kluge Aufgabenteilung kann die Beziehung sogar bereichern.
Ein ressourcenorientierter Blick hilft, die oft überbetonten Defizite auszugleichen. Viele Menschen mit ADHS sind hoch kreativ, spontan, intuitiv, sensibel für emotionale Zwischentöne. Wenn Aufgabenverteilungen nach Stärken erfolgen, statt nach dem Prinzip „wer macht es am besten“, entsteht ein stärkeres Wir-Gefühl und neue Wertschätzung füreinander.
🤝 5. Unterstützung annehmen – von außen und miteinander
Paartherapie, Coaching oder medikamentöse Behandlung können entscheidend helfen – aber nur, wenn beide bereit sind, sich einzubringen.
Professionelle Begleitung kann helfen, festgefahrene Muster zu erkennen, neue Kommunikationsformen zu etablieren und konkrete Werkzeuge für den Alltag zu entwickeln.

Auch eine medikamentöse Behandlung kann – insbesondere bei Impulsivität, innerer Unruhe und Emotionsregulation – eine deutliche Verbesserung bewirken. Wichtig ist, die Entscheidung gemeinsam zu reflektieren und professionell begleiten zu lassen.
💖 6. Selbstfürsorge nicht vergessen
Beziehung gelingt nicht, wenn einer sich verliert. Selbstfürsorge ist keine Schwäche – sondern Voraussetzung für echte Verbindung.
Gerade in neurodivergenzgeprägten Beziehungen ist es essenziell, dass beide Partner ihre eigenen Grenzen spüren und respektieren. Ob durch Auszeiten, Therapien, Rückzugsmöglichkeiten oder soziale Kontakte: Wer gut für sich sorgt, bleibt handlungsfähig und präsent – nicht nur für sich, sondern auch für den anderen.
Eine Beziehung mit ADHS – lebendig, echt und gestaltbar
Wenn in einer Beziehung eine Person mit ADHS lebt, bringt das zwar manches durcheinander – aber es kann auch vieles in Bewegung bringen. Wer bereit ist, einander wirklich zuzuhören, Eigenverantwortung zu übernehmen und gemeinsam Strukturen zu finden, schafft eine Verbindung, die tief, lebendig und belastbar sein kann.
ADHS muss nicht trennen. Im Gegenteil: Mit Wissen, Klarheit und gegenseitigem Verständnis entsteht oft eine besondere Form von Nähe – eine, die nicht auf Perfektion basiert, sondern auf Echtheit, Humor und der Bereitschaft, sich gemeinsam weiterzuentwickeln. Genau darin liegt eine große Stärke.
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