Einige Menschen kommen in meine Praxis mit einer besonderen Herausforderung: Sie haben Mühe, ihre Emotionen körperlich zu spüren und daraus ihre Gefühle abzuleiten. Dieser Zustand, oft charakterisiert durch ein begrenztes Spektrum an Gefühlen, wird als Gefühlsblindheit oder Alexithymie bezeichnet.
Bevor wir ein Gefühl benennen oder darüber sprechen können, ist es notwendig, dass wir es auf einer körperlichen Ebene wahrnehmen. Diese grundlegende emotionale Wahrnehmung ist der Ausgangspunkt, von dem aus wir unsere Gefühle identifizieren und verbalisieren. Doch für Menschen mit Alexithymie stellt genau dieser Prozess eine Hürde dar. Das Finden der passenden Worte, um ihre Emotionen auszudrücken, ist für sie oft schwierig oder kaum möglich.
Alexithymie wird in der Psychologie nicht als eigenständige Störung, sondern als Persönlichkeitsmerkmal verstanden. Es ist ein Zustand, der isoliert auftreten kann, jedoch ist es nicht ungewöhnlich, dass Alexithymie in Verbindung mit anderen neurodivergenten Zuständen wie Autismus oder ADHS auftritt. Diese Verknüpfung unterstreicht die Komplexität des menschlichen Gefühlslebens und die Vielfalt der emotionalen Erfahrung.
Gefühle körperlich wahrnehmen und sie zusätzlich zu verbalisieren ist schwierig.
Die Entstehung von Alexithymie ist bis heute nicht vollständig geklärt, und es gibt verschiedene Theorien und Annahmen, die versuchen, dieses Phänomen zu erklären. Hier sind einige der häufig diskutierten Gründe und Theorien:
Biologische Faktoren:
Neurologische Unterschiede: Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen mit Alexithymie Unterschiede in der Gehirnstruktur oder -funktion aufweisen könnten, insbesondere in den Bereichen, die für die Emotionserkennung und -verarbeitung verantwortlich sind, wie der präfrontale Kortex oder die Amygdala.
Genetik: Alexithymie kann eine genetische Komponente haben, wobei bestimmte Gene die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Person Schwierigkeiten beim Verarbeiten von Emotionen hat.
Entwicklungs- und Umweltfaktoren:
Emotionale Vernachlässigung in der Kindheit: Menschen, die in ihrer Kindheit wenig emotionale Wärme, Anerkennung oder Reaktion von ihren Bezugspersonen erfahren haben, entwickeln möglicherweise nicht die Fähigkeit, ihre eigenen Emotionen zu verstehen und auszudrücken.
Trauma und chronischer Stress: Traumatische Erfahrungen und anhaltender Stress können dazu führen, dass Emotionen als Bewältigungsmechanismus unterdrückt werden, was langfristig zu alexithymen Tendenzen führen kann.
Modellierung und Lernumgebungen: In Familien oder Kulturen, in denen der Ausdruck von Gefühlen entmutigt oder nicht vorgelebt wird, können Individuen Schwierigkeiten entwickeln, ihre eigenen Emotionen zu erkennen und zu kommunizieren.
Die Mutter bzw. Bezugsperson sollte z.B. das aktuelle Gefühl des Kindes durch ihren eigenen Gesichtsausdruck spiegeln, so lernt der Säugling die eigenen Gefühle einzuordnen.
Psychosoziale Aspekte:
Anpassungsmechanismen: Alexithymie kann sich als ein Schutzmechanismus entwickeln, um mit emotional belastenden Situationen umzugehen, indem man sich von seinen eigenen Gefühlen distanziert.
Erlernte Verhaltensmuster: Emotionales Verhalten und der Ausdruck von Gefühlen sind teilweise erlernt. Mangelnde Erfahrung oder negative Verstärkung im Ausdruck von Emotionen können zu alexithymen Verhaltensweisen führen.
Assoziation mit anderen psychischen Störungen:
Begleiterscheinung: Alexithymie tritt häufig in Verbindung mit anderen psychischen Störungen auf, wie Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, Autismus und ADHS. Es kann eine sekundäre Reaktion auf diese Störungen sein oder mit ihnen gemeinsam auftreten.
Persönlichkeitseigenschaften:
Temperament und Persönlichkeit: Einige Menschen haben möglicherweise eine natürliche Tendenz, weniger emotional zu sein, oder sie haben Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich, die zu alexithymen Merkmalen führen können.
Gefühlsblindheit wirkt sich auf die Beziehungsebene aus.
Da Alexithymie ein komplexes Phänomen ist, ist es wahrscheinlich, dass bei den meisten Betroffenen mehrere der genannten Faktoren zusammenwirken. Die genaue Ursache kann von Person zu Person variieren, und oft ist eine Kombination aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren im Spiel.
Fotos Canva und Wix
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