Autistisches Burnout – wenn die Anpassung erschöpft
- Dr. Mitsche
- 28. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
Warum eine klare Diagnose so entscheidend ist
Viele Erwachsene, die erst spät im Leben eine Autismus-Spektrum-Diagnose erhalten, berichten von Phasen massiver Erschöpfung, Rückzug und dem Gefühl, „nicht mehr zu können“. Diese Zustände werden von Fachpersonen wie auch von Betroffenen selbst häufig zunächst als Depression oder klassisches Burnout-Syndrom gedeutet.

Gerade die Überschneidung mit depressiven Symptomen führt dazu, dass nicht selten Antidepressiva verschrieben oder psychotherapeutische Verfahren mit dem Fokus auf Depression eingesetzt werden. Diese Behandlungen können zwar gewisse Begleiterscheinungen lindern – etwa Schlafstörungen, gedrückte Stimmung oder Ängstlichkeit –, erreichen jedoch oft nicht den Kern der Problematik. Das eigentliche Thema bleibt unbehandelt: die autistische Grundsymptomatik und das dauerhafte Überlastungserleben durch Anpassung an eine neurotypische Umwelt.
Genau hierin liegt ein zentrales Argument, warum eine Autismusdiagnose im Erwachsenenalter so wichtig ist. Wird nur die „Komorbidität“ (z. B. Depression, Erschöpfung) diagnostiziert, nicht aber die Ursache oder das Grundthema, dann greifen Therapie und Medikation nur eingeschränkt. Viele Betroffene erleben trotz Behandlung keine wirkliche Erleichterung, weil ihre Alltagsbelastung unverändert bleibt. Erst mit einer korrekten Diagnose können spezifische Strategien, angepasste Therapien und eine individuell zugeschnittene Unterstützung entwickelt werden.
Was versteht man unter „autistischem Burnout“?
Der Begriff „autistisches Burnout“ beschreibt einen Zustand massiver körperlicher, emotionaler und mentaler Erschöpfung, der bei Menschen im Autismus-Spektrum auftreten kann.

Anders als beim klassischen Burnout im beruflichen Kontext steht hier nicht die Überforderung durch Arbeit im Vordergrund, sondern das andauernde Bemühen, sich an die Erwartungen einer nicht-autistischen Umwelt anzupassen.
Viele Autist:innen investieren täglich enorme Energie, um ihre Andersartigkeit zu kompensieren, nicht aufzufallen oder „normal“ zu wirken. Dieses sogenannte Maskieren oder Camouflaging ist kurzfristig oft hilfreich, führt jedoch langfristig zu einer extremen Überlastung. Die Folge: Irgendwann bricht das System zusammen – der Körper, die Psyche und die Ressourcen reichen nicht mehr aus, um weiter zu funktionieren.

Ein Beispiel aus der Praxis
Ein eindrückliches Beispiel zeigt, wie viel Energie scheinbar kleine Anpassungen kosten können. In einer psychologischen Einheit sprach ich mit einer Klientin über das soziale Lächeln, das sie in vielen Alltagssituationen automatisch einsetzt, um „freundlich“ zu wirken oder unangenehmen Situationen vorzubeugen. Wir thematisierten, dass dieses Lächeln für sie eine Form der Maskierung ist, die sie sehr viel Kraft kostet – und dass es hilfreich sein könnte, dieses Muster bewusster zu hinterfragen.
In der nächsten Sitzung erzählte sie mit sichtbarer Erleichterung von einem Erlebnis an einer Bushaltestelle: Ein Mann tippte ihr auf die Schulter und fragte sie nach einer Zigarette. Früher hätte sie sich reflexartig umgedreht, ein Lächeln aufgesetzt und die Zigarette mit einem aufgesetzten freundlichen Ausdruck gegeben. Dieses Mal jedoch drehte sie sich zwar um, aber ihre Mimik blieb neutral, sie reichte ihm einfach die Zigarette – ohne zusätzliches Lächeln, ohne angestrengte Freundlichkeit.
Für sie war das ein regelrechtes Aha-Erlebnis. Sie beschrieb, wie ungewohnt leicht und kraftsparend sich dieser Moment anfühlte. Erst dadurch wurde ihr bewusst, wie viel Energie sie über Jahre hinweg in solche kleinen, scheinbar nebensächlichen Gesten wie ein Lächeln investiert hatte – Gesten, die für andere selbstverständlich und mühelos sind, für sie aber anstrengende Maskierung bedeuten.

Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, wie sehr sich selbst minimale soziale Anpassungen auf die Belastung von Autist:innen auswirken können – und wie entlastend es sein kann, Maskierungsstrategien schrittweise zu reduzieren.
Typische Anzeichen
Ein autistisches Burnout kann sehr unterschiedlich aussehen, dennoch berichten Betroffene immer wieder über ähnliche Merkmale:
Starke Erschöpfung, die auch durch Schlaf und Pausen nicht ausreichend besser wird
Verlust von Fähigkeiten, die zuvor möglich waren (z. B. Gespräche führen, Arbeiten organisieren, Reize verarbeiten)
Erhöhte Reizempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen oder Berührungen
Rückzug aus sozialen Situationen, bis hin zur sozialen Isolation
Überforderung durch kleinste Anforderungen des Alltags
Stimmungsschwankungen, Gereiztheit oder depressive Verstimmungen
Gefühle von „Leere“ oder „Abschalten“

Abgrenzung zur Depression
Autistisches Burnout wird häufig mit einer Depression verwechselt, da sich die Symptome ähneln können: Antriebslosigkeit, Rückzug, Erschöpfung, Interessenverlust. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass beim autistischen Burnout die Überlastung durch permanente Anpassung im Vordergrund steht – nicht eine primär depressive Erkrankung.
Eine Depression kann zusätzlich entstehen (Komorbidität), doch die Kernursache ist eine andere. Entsprechend wirken klassische Antidepressiva oder depressionstypische Therapieansätze nicht in vollem Umfang. Sie lindern Begleiterscheinungen, beheben aber nicht das Grundproblem.

Was hilft?
Der erste und wichtigste Schritt ist das Erkennen und Anerkennen des autistischen Burnouts. Für Betroffene bedeutet das, dass sie nicht „schwach“ oder „faul“ sind, sondern ihre Erschöpfung eine logische Folge massiver Dauerbelastung ist.
Hilfreich sind:
Entlastung im Alltag: Anforderungen reduzieren, Prioritäten überdenken
Rückzugsmöglichkeiten schaffen: sichere, reizfreie Räume nutzen
Selbstfürsorge ernst nehmen: Pausen, Routinen, Körperwahrnehmung stärken
Weniger Maskieren: eigene Bedürfnisse offen kommunizieren
Unterstützende Netzwerke: Familie, Freunde, Selbsthilfegruppen
Fachliche Begleitung: Psychotherapie und klinisch-psychologische Unterstützung mit spezifischem Fokus auf Autismus
Warum die Diagnose zählt
Das autistische Burnout ist ein eindrückliches Beispiel dafür, warum die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter so wichtig ist. Wird nur die begleitende Depression oder Erschöpfung behandelt, bleibt das Grundproblem bestehen. Erst wenn die autistische Symptomatik erkannt und berücksichtigt wird, können die richtigen Hilfen greifen.
Ziel ist nicht, Betroffene „anzupassen“, sondern Bedingungen zu schaffen, die ihnen ein gesundes, stabiles Leben ermöglichen – mit weniger Maskieren, mehr Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse und der Chance, die eigenen Stärken zu entfalten.



Kommentare