Als Psychologin, die sich auf ADHS spezialisiert hat, begegne ich in meiner Praxis immer wieder Vorurteilen und Missverständnissen zum Thema ADHS – sowohl von anderen Fachkräften als auch von Angehörigen.
Diese Vorurteile spiegeln oft die weit verbreiteten Mythen wider, die auch in den Medien kursieren. Hier sind einige der häufigsten Vorurteile, die ich klären möchte:
Vorurteil 1: "Du kannst kein ADHS haben, denn du hast die Matura bzw. Abitur geschafft."
Menschen mit ADHS können trotz der Herausforderungen, die die Störung mit sich bringt, akademische Erfolge erzielen. Dies erfordert oft mehr Aufwand und die Entwicklung effektiver Bewältigungsstrategien. Geschlechtsspezifische Unterschiede und Subtypen der Störung können ebenfalls dazu führen, dass ADHS bei einigen Menschen weniger auffällig und somit weniger diagnostiziert wird.
Ein bestandener Schulabschluss wie die Matura oder das Abitur sowie ein erfolgreich abgeschlossenes Studium schließen nicht aus, dass eine Person ADHS haben kann.
Eine höhere Intelligenz kann dabei unterstützen, die Symptome zu kompensieren, ersetzt jedoch nicht die Diagnose und Behandlung von ADHS.
Vorurteil 2: "Bei dir wurde keine kognitive Einschränkung nachgewiesen. Auch wenn alle anderen Messinstrumente auffällig sind, kannst du kein ADHS haben."
ADHS ist eine komplexe Störung, die sich nicht ausschließlich durch kognitive Einschränkungen manifestiert. Es umfasst eine Vielzahl von Symptomen, darunter Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivität und Impulsivität, die nicht immer mit kognitiven Defiziten einhergehen müssen. Ein umfassender diagnostischer Ansatz berücksichtigt verschiedene Messinstrumente und Symptome.
Vorurteil 3: "Du kannst kein ADHS haben, weil du einen guten Job hast."
ADHS bedeutet nicht zwangsläufig, dass beruflicher Erfolg ausgeschlossen ist. Viele Erwachsene mit ADHS entwickeln effektive Strategien zur Bewältigung ihrer Symptome und erreichen in verschiedenen beruflichen Bereichen beachtliche Erfolge. Zudem weisen Studien darauf hin, dass ein erhöhter Prozentsatz von Selbstständigen ADHS hat, was auf die Vorteile der Selbstständigkeit für Betroffene hinweisen könnte.
Erfolgreich im Beruf zu sein und eine Karriere aufgebaut zu haben, bedeutet nicht, dass diese Person kein ADHS haben kann.
Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Menschen mit ADHS häufiger selbstständig sind. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Flexibilität und Autonomie der Selbstständigkeit besser zu ihren Bedürfnissen und Arbeitsstilen passt.
Vorurteil 4: "Du kannst kein ADHS haben, weil du dich konzentrieren kannst, wenn dich etwas interessiert."
Menschen mit ADHS können oft hyperfokussieren, besonders bei Tätigkeiten, die sie interessieren. Das bedeutet nicht, dass sie keine Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit haben. ADHS ist durch eine unregelmäßige Aufmerksamkeitsspanne gekennzeichnet, die sowohl Unter- als auch Überfokussierung beinhalten kann.
Vorurteil 5: "Du kannst kein ADHS haben, weil du nicht hyperaktiv bist."
ADHS muss nicht immer Hyperaktivität beinhalten.
Es gibt verschiedene Subtypen von ADHS, darunter der unaufmerksame Typ, bei dem die Hauptsymptome Konzentrationsprobleme und Vergesslichkeit sind, ohne hyperaktives Verhalten.
Vorurteil 6: "ADHS ist eine Kindheitsstörung, du kannst das nicht als Erwachsener haben."
ADHS ist eine lebenslange Störung. Bei vielen Menschen werden die Symptome im Erwachsenenalter weniger offensichtlich, sie verschwinden aber nicht.
ADHS ist keine Kinderkrankheit, die sich auswächst.
Viele Erwachsene bemerken erst später im Leben, dass sie ADHS haben, oft nach der Diagnose ihrer Kinder.
Vorurteil 7: "Du kannst kein ADHS haben, weil du gute Noten in der Schule hattest."
Gute akademische Leistungen schließen ADHS nicht aus. Viele Betroffene nutzen außergewöhnliche Anstrengungen und Strategien, um ihre Schulleistungen zu erreichen. Manchmal kompensieren sie ihre Defizite durch übermäßigen Aufwand oder Unterstützung von Familie und Freunden.
Vorurteil 8: "ADHS ist nur eine Ausrede für Faulheit und schlechte Organisation."
ADHS ist eine anerkannte neurologische Störung, die durch Defizite in der exekutiven Funktion gekennzeichnet ist, darunter Planung, Organisation und Zeitmanagement.
Diese Schwierigkeiten sind nicht auf Faulheit zurückzuführen, sondern auf grundlegende Unterschiede in der Gehirnfunktion.
Vorurteil 9: "Du kannst kein ADHS haben, weil du nicht die klassischen Symptome hast."
Die Symptome von ADHS variieren stark von Person zu Person und können sich mit dem Alter verändern. Erwachsene haben oft weniger offensichtliche Symptome als Kinder und können Probleme wie chronische Prokrastination, emotionale Dysregulation und Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung von Beziehungen erleben.
Warum diese Vorurteile nicht stimmen können:
ADHS ist eine komplexe neurobiologische Störung, die sich auf vielfältige Weise manifestieren kann. Es ist wichtig zu verstehen, dass ADHS mehr ist als nur Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsprobleme. Die individuelle Ausprägung der Symptome und deren Auswirkungen auf das tägliche Leben können sehr unterschiedlich sein. Vorurteile basieren oft auf Missverständnissen und mangelndem Wissen über die Störung. Eine korrekte Diagnose und Behandlung von ADHS erfordert eine umfassende Beurteilung durch Fachkräfte, die auf diese Störung spezialisiert sind.
Fortbildung ist mehr als nur eine Verpflichtung.
Diese Vorurteile verdeutlichen, wie wichtig es ist, ADHS auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und einer umfassenden diagnostischen Bewertung zu verstehen. Jeder Fall ist individuell, und eine genaue Diagnose erfordert eine sorgfältige Betrachtung aller relevanten Informationen.
Mit diesem Beitrag hoffe ich, einige der häufigsten Missverständnisse über ADHS auszuräumen und ein besseres Verständnis für diese komplexe Störung zu fördern. Wenn Sie Fragen oder Bedenken haben, zögern Sie nicht, sich an eine spezialisierte Fachkraft zu wenden.
Fotos: Canva & Wix
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